Physiologie des Sehvermögens

Wie sieht ein Pferd seine Umgebung?

Fest steht, ein Pferd nimmt sowohl seine nähere, als auch seine weitere Umgebung optisch so wahr, wie es die Erfordernisse seines Lebens in der freien Wildbahn, seiner Ernährung und nicht zuletzt seines Sozialverhaltens in der Herde erfordern. Es wäre auch nicht nachvollziehbar, dass die Natur eine Tierart im Laufe der Evolution nicht so mit Sinnesorganen ausgestattet hätte, wie es das Überleben der Art und die Adaptation an seinen Lebensraum notwendig macht.

Gesichtsfeld

Wichtig sind und waren in der Vergangenheit für das Pferd als Weide- und Fluchttier die gute Rundumsicht und das schnelle Erkennen von Bewegungen, um mögliche Fressfeinde schon von weitem bemerken zu können und zu flüchten. So erlaubt die seitliche Anordnung der Augen am Pferdekopf eine fast 360 Grad Rundumsicht, die Fähigkeit, dreidimensional (stereoskopische) Abstände und Tiefe abschätzen zu können, ist aber auf einen kleinen Bereich von ca 50 Grad bei der Geradeaussicht beschränkt, gerade soviel, wie man braucht, um bei der Vorwärtsbewegung auf der Weide Hindernissen gut ausweichen zu können. Pferde haben aber auch einen kleinen Bereich unmittelbar vor sich (ungefähr 1,20 Meter) und direkt hinter sich, den sie visuell gar nicht abdecken können. Diese Einschränkungen sollte jedermann im Umgang mit Pferden beherzigen. Es ist nicht nur sicherer, sondern auch für ein Pferd angenehmer, wenn man sich ihm seitlich oder von schräg vorn nähert. Im Pferdesport (Springen) fällt dem Pferd dementsprechend das Erkennen eines zu überspringenden Hindernisses am leichtesten, wenn es sich einem in stark kontrastierenden (am besten schwarz-weiss) Farben gestrichenen Hindernis in gerader Linie annähern kann.

Farbsehen

Man muss davon ausgehen, dass ein Pferd seine Umgebung anders sieht, als wir Menschen. Das Pferdeauge kann z. B. die Farbe ROT aus dem Spektrum des sichtbaren Lichts nicht wahrnehmen, hingegen wird BLAU und GELB genauso von der Pferdenetzhaut verarbeitet, wie bei uns Menschen. Der fehlende Rotanteil beim Sehen stellt aber für das Pferd nicht wirklich eine Einschränkung dar. Für Pferde bestand offensichtlich in der Entwicklung des Auges kein Bedarf, die Farbe Rot von anderen Farben deutlich unterscheiden zu müssen, denn weder für seine Ernährung (Futterpflanzen) noch für die Orientierung auf den endlosen Steppen bestand während der Evolution eine zwingende Notwendigkeit, die Farbe Rot differenzieren zu können.

norm

Farbwahrnehmung Mensch

pfd_farb_norm

Farbwahrnehmung Pferd

Pferd weitsichtig

Weitsichtigkeit- Kurzsichtigkeit

Messungen und wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Pferde einen Visus von 1,1 bis 1,2 haben (normalsichtige Menschen haben einen Visus von 1,0). Dabei gilt, je kleiner der Zahlenwert, umso besser der Visus! Zum Vergleich: Ein Greifvogel hat einen Visus von 0,4.
Mensch und Pferd haben offensichtlich ein vergleichbar gutes Sehvermögen. Natürlich findet man auch, obwohl eher selten, beim Pferd Abweichungen von der physiologischen Norm, also kurz- oder weitsichtige Tiere. Braucht ein solches Pferd dann eine Brille?
Nein, ganz sicher nicht, denn die gemessenen Fehlsichtigkeiten bewegen sich im Bereich von +/- 1,5 Dioptrien. Für das Lesen eines Buches wäre es vielleicht störend, für ein Pferd aber eher von untergeordneter Bedeutung.
Weniger als drei Prozent aller untersuchten Pferde zeigten bei Untersuchungen eine stärkere Fehlsichtigkeit, konnten diese aber im täglichen Umgang gut kompensieren.

 Akkomodation

Einen positiven Effekt auf geringradige Fehlsichtigkeiten hat beim Menschen die Fähigkeit des Menschenauges: zur Akkomodation, d. h. die Fähigkeit der Linse, im Auge durch Gestaltveränderung Abweichungen bis zu einem gewissen Grad auszugleichen. Dem Pferdeauge fehlt allerdings die Fähigkeit zur Akkomodation (wie vielen anderen unserer Haustiere auch) vollständig. Dennoch ist auch den etwas stärker fehlsichtigen Pferden im täglichen Umgang keine Einschränkung ihres Erlebnishorizontes anzumerken.
Das gelegentlich zu beobachtende Drehen und Wenden des Kopfes um „etwas genauer zu beobachten“ wurde in der Vergangenheit oft auf das Vorhandensein von geteilten Schärfeperzeptionsbereichen in Bereich der Netzhaut („ramp retina“) zurück geführt. Wahrscheinlicher ist aber, dass ein Pferd damit die Nutzung des engwinkligen dreidimensionalen Sehbereichs auf bestimmte Beobachtungsrichtungen adaptiert.
Denkbar ist auch, dass durch Ausrichtung des Betrachtungswinkels die Detailerkennbarkeit einzelner Strukturen der Umwelt für Pferde bei bestimmter Kopfhaltung verbessert wird, wodurch dann das Licht auf eine im Zentrum der Retina horizontal liegende Region von hoher Konzentration von Sehzellen fällt, die eine höhere Auflösung ermöglichen, als die Bereiche der Netzhaut in der Peripherie der Netzhaut.
In diesen peripheren Bereichen ist die Dichte der Ganglionzellen sehr viel geringer und damit die Erkennbarkeit von Objekten herabgesetzt. Gegebenenfalls ist das ein Hinweis darauf, warum Pferde bei sich bewegenden Objekten in der Ferne bzw. Peripherie ihres Gesichtskreise oftmals panisch reagieren, weil sie durch ihre evolutionäre Prägung immer sofort ein sich annäherndes Raubtier vermuten.

Dämmerungssehen

Eine weitere Besonderheit der visuellen Fähigkeiten des Pferdeauges zeigt sich beim Verhalten der Netzhaut hinsichtlich der Adaptation des Auges von hellem Umgebungslicht zur Dunkelheit und umgekehrt. Hier scheint die Umschaltung vom Farbsehen/Helligkeitssehen (Zapfen basiert) zum Dämmerungssehen (Stäbchen basiert) beim Pferdeauge vergleichsweise sehr langsam zu erfolgen. Zu beobachten ist dieses Phänomen beispielsweise dann, wenn ein Pferd aus dem dunklen Stallbereich ins helle Sonnenlicht oder aus dem Hellen in einen dunklen Raum geführt wird. Vielleicht ist hier auch der Grund dafür zu suchen, dass sich manche Pferde nur ungern in einen dunklen Hänger verladen lassen.
Ist das Pferdeauge aber einmal an schlechte Lichtverhältnisse adaptiert, so beweist das Pferd ein vergleichsweise besseres Sehvermögen in der Dämmerung oder gar bei Nacht, als zum Beispiel der Mensche. Die Ursache dafür ist einerseits darin zu suchen, dass Pferde einen sehr viel höheren Anteil von Stäbchen als Zapfen in der Netzhaut haben. Andererseits findet sich im oberen Anteil der Netzhaut das sogenannte „Tapetum (fibrosum)“. In diesem Bereich mit einer speziellen Anordnung des Kollagengewebes wird das einfallende Licht innerhalb der Netzhaut noch einmal reflektiert und kann dann zu einer stärkeren Erregung der Photorezeptoren beitragen (Lichtverstärkungseffekt).